Witterungsbereinigter Verbrauch: Sind wir plötzlich gute Gassparer?
Nach bereits zwei Warnungen verkündete Klaus Müller von der Bundesnetzagentur diese Woche einen Erfolg: Die privaten Haushalte, die die letzten Wochen dem Einsparziel von 20% hinterherhinkten, sparten diese Woche nun „bei vergleichbarer Temperatur“ mehr als 20% Gas ein.
Sind die Deutschen nun abrupt zu Gassparern geworden? Ein Dialog auf Twitter, zwischen dem Professor und Mitglied der Expertenkommission Gas, die jüngst Vorschläge zur Ausgestaltung der Gaspreisbremse machten, Lion Hirth und Klaus Müller, Chef der Bundesnetzagentur, fasst die unterschiedlichen Sichtweisen zusammen:
Lion Hirth: "Die Bundesnetzagentur wird nicht nur bei der Veröffentlichung von Daten, sondern auch bei deren Visualisierung immer besser. Hauptvorbehalt: Der Verbrauch ist nicht witterungsbereinigt."
Klaus Müller: "Aus Gründen, lieber Lion Hirth, da die Bundesnetzagentur den Energieverbrauch nicht akademisch beschreibt - dann wäre eine Temperaturkorrektur unerlässlich. Wir aber wollen einem Gasmangel vorbeugen. Die Temperatur ist also sehr wichtig, aber wir müssen unabhängig von warmen oder kalten Tagen Gas sparen."
Private Haushalte sparten 29% Gas ein - witterungsunbereinigt
Diese Woche berichtete die Bundesnetzagentur: "Der Gasverbrauch ist im Vergleich zum durchschnittlichen Verbrauch der letzten vier Jahre zurückgegangen, die Temperaturen lagen in der letzten Woche 0,7 Grad über dem Jahresmittel 2018-2021."
Woche | Gasverbrauch 2022 | Gasverbrauch 2021 | Durchschnitt 2018 - 2021 | Einsparung/ Mehrverbrauch |
---|---|---|---|---|
1 | 1975 GWh | 2330 GWh | 2069 GWh | 94 GWh |
2 | 2239 GWh | 2465 GWh | 2116 GWh | -123 GWh |
3 | 2128 GWh | 2089 GWh | 2073 GWh | -55 GWh |
4 | 2102 GWh | 2276 GWh | 2227 GWh | 125 GWh |
5 | 1983 GWh | 2131 GWh | 2051 GWh | 68 GWh |
6 | 1933 GWh | 3084 GWh | 2365 GWh | 432 GWh |
7 | 1700 GWh | 1921 GWh | 1970 GWh | 270 GWh |
8 | 1845 GWh | 1384 GWh | 1801 GWh | -44 GWh |
9 | 1973 GWh | 1814 GWh | 2007 GWh | 34 GWh |
10 | 1684 GWh | 1843 GWh | 1711 GWh | 27 GWh |
11 | 1440 GWh | 1965 GWh | 1769 GWh | 329 GWh |
12 | 1075 GWh | 1486 GWh | 1565 GWh | 490 GWh |
13 | 1479 GWh | 1049 GWh | 1390 GWh | -89 GWh |
14 | 1521 GWh | 1732 GWh | 1362 GWh | -159 GWh |
15 | 912 GWh | 1622 GWh | 1092 GWh | 180 GWh |
16 | 841 GWh | 1165 GWh | 815 GWh | -26 GWh |
17 | 847 GWh | 1093 GWh | 724 GWh | -123 GWh |
18 | 593 GWh | 1141 GWh | 853 GWh | 260 GWh |
19 | 365 GWh | 691 GWh | 681 GWh | 316 GWh |
20 | 290 GWh | 810 GWh | 718 GWh | 428 GWh |
21 | 377 GWh | 786 GWh | 516 GWh | 139 GWh |
22 | 399 GWh | 352 GWh | 364 GWh | -35 GWh |
23 | 289 GWh | 288 GWh | 297 GWh | 8 GWh |
24 | 250 GWh | 223 GWh | 289 GWh | 39 GWh |
25 | 225 GWh | 260 GWh | 272 GWh | 47 GWh |
26 | 214 GWh | 267 GWh | 243 GWh | 29 GWh |
27 | 238 GWh | 264 GWh | 247 GWh | 9 GWh |
28 | 224 GWh | 251 GWh | 279 GWh | 55 GWh |
29 | 187 GWh | 243 GWh | 250 GWh | 63 GWh |
30 | 195 GWh | 238 GWh | 214 GWh | 19 GWh |
31 | 177 GWh | 284 GWh | 223 GWh | 46 GWh |
32 | 172 GWh | 249 GWh | 216 GWh | 44 GWh |
33 | 165 GWh | 296 GWh | 237 GWh | 72 GWh |
34 | 170 GWh | 374 GWh | 262 GWh | 92 GWh |
35 | 193 GWh | 382 GWh | 285 GWh | 92 GWh |
36 | 196 GWh | 290 GWh | 309 GWh | 113 GWh |
37 | 310 GWh | 365 GWh | 354 GWh | 44 GWh |
38 | 483 GWh | 520 GWh | 422 GWh | -61 GWh |
39 | 618 GWh | 578 GWh | 564 GWh | -54 GWh |
40 | 571 GWh | 834 GWh | 805 GWh | 234 GWh |
"Mit 571 GWh lagen die privaten Haushalte ca. 29% unter dem Vorjahresdurchschnitt. Das ist eine gute Nachricht, bitte weiter so!“ lobte Klaus Müller.
Das klingt nach viel. Da der Gasverbrauch in Deutschland aber grundsätzlich um mindestens 20 Prozent gegenüber den Vorjahren sinken muss, um eine Gasmangellage im Winter 2022/2023 zu vermeiden, vergleicht die Bundesnetzagentur absolute und keine witterungsbereinigten Erdgas-Verbrauchsdaten der letzten Jahre.
Ob wir wirklich Gas eingespart haben, kann man daher nur beurteilen, wenn man die "0,7 Grad" berücksichtigt.
Sparen wir oder haben wir bloß Glück mit dem Wetter?
Wie Zeit Online berichtet, liegen wir aktuell auch bei den witterungsbereinigten Daten nicht schlecht: Letzte Woche haben die Deutschen Haushalte 26% "vom üblichen Verbrauch bei vergleichbarer Temperatur" eingespart. Das ist - auch witterungsbereinigt - ein gutes Ergebnis. Aber deuten diese Zahlen tatsächlich auf ein ausgeprägteres Sparverhalten als in den Vorwochen hin?
Wie das DIW Berlin auf seinem Blog berichtet, war der September des Jahres 2022 insgesamt deutlich kühler als der des Jahres 2021: „Die Durchschnittstemperaturen in den Kalenderwochen 38 und 39 lagen im Jahr 2022 gut 3 bis 4°C unter denen des Jahres 2021. Die daraus folgenden Gradtagszahlen, die als wesentlicher Indikator für den Heizenergiebedarf gelten, waren ebenfalls deutlich höher.“
Die vergangene Woche lag aber um 0,7 Grad über dem Jahresmittel 2018-2021 und war damit also wärmer. Dass wir witterungsbereinigt bei milden Temperaturen Gas einsparen bedeutet also, dass viele Deutsche die Gasheizung bewusst runterdrehen oder sogar auslassen. Das ist sehr gut und wird zurecht gewürdigt.
Dass wir bei milderen Temperaturen auch witterungsbereinigt Gas einsparen heißt aber nicht, dass die deutschen Haushalte auch bei tieferen Temperaturen ähnlich gut abschneiden. Bei vielen Haushalten gibt es letztlich eine Schmerzgrenze – quasi ein Kipppunkt – an der viele die Heizung anmachen.
Um auch in einem strengen Winter das Gassparziel nicht aus den Augen zu verlieren, müssen Anreize geschaffen werden. Claudie Kemfert vom DIW Berlin schlägt daher Prämien für Gassparer vor. Diese könnten helfen, die Sparbereitschaft auch bei tieferen Temperaturen zu belohnen.
Ariadne-Forscher: Wir müssen sogar 30% Gas einsparen!
Wie Forscher des Ariadne-Projekts nun feststellen, reichen die von der Bundesnetzagentur avisierten 20% Gaseinsparung nicht aus. Im "Kurzdossier: Deutschland auf dem Weg aus der Gaskrise – Wie sich Klimaschutz und Energiesouveränität vereinen lassen" schätzen die Forscher, dass auf Basis bestehender Lieferverhältnisse und Planungen Deutschland bei einem Ausfall russischer Gaslieferungen in den nächsten Jahren bei zusätzlichem Import substanzieller Mengen LNG (liquefied natural gas) ein Gasangebot von ca. 600 TWh/a aus verlässlichen Lieferländern und einheimischer Förderung sichern kann – eine Reduktion von ca. 30% im Vergleich zum Vorkrisenniveau.
Das größte Potenzial, um im Gebäudesektor den Gasverbrauch kurzfristig zu reduzieren, liegt laut Wissenschaftlern in einer Anpassung des Heizverhaltens der Menschen – beispielsweise durch Absenken der Raumtemperatur, bedarfsgerechtes Heizen und intelligente Steuerung. Zusammen mit einem beschleunigten Hochlauf von Wärmepumpen, dem Anschluss an Fern- und Nahwärmenetze und einer stärkeren energetischen Sanierung des Gebäudebestands ließen sich im Gebäudesektor bis 2023 gut 30% des Gasbedarfs einsparen.