Zertifizierungsstau: „Solar bis 500 MW steht nur rum“
Solarenergie mit Wartezeit
Der Anschluss von Freiflächenanlagen erfolgt aufgrund der Erzeugungsleistung zumeist auf der Mittelspannungsebene. Eine entsprechende Anlage mit installierter Leistung zwischen 135 kW und 950 kW darf nur dann am öffentlichen Netz angeschlossen werden, wenn sie über eine Anlagenzertifizierung verfügt. Die Ausstellung der Zertifikate ist kompliziert, langwierig und kostet die Anlagenbetreiber:innen nicht nur Zeit, es treten finanzielle Verluste durch Stillstand auf. Mit einer Wartezeit von 40 bis 60 Wochen stehen leistungsstarke Photovoltaikanlagen teilweise über ein Jahr im Stau, bevor sie einen Beitrag zur Dekarbonisierung leisten können.
Langwieriges Genehmigungs-Prozedere
Im Zuge des European Network Codes „Requirements for Generators“ (RfG) wurden netzdienliche Anforderungen an dezentrale Erzeugungsanlagen für die Mitgliedsstaaten vorgegeben. In Deutschland regelt die Elektrotechnische-Eigenschaften-Nachweis-Verordnung (NELEV) die Einhaltung technischer Mindestanforderungen an Erzeugungsanlagen.
Die technische Ausarbeitung der Anforderungen erfolgt durch das Forum Netzbetrieb/Netztechnik (FNN) im Verband der Elektrotechnik Elektronik und Informationstechnik e.V. (VDE). Die Technischen Anschlussregel (TAR) Mittelspannung (VDE-AR-N 4110) erfüllt die EU-Richtlinie und definiert die technischen Anforderungen für Solaranlagen mit einer installierten Leistung zwischen 135 kWp und 950 kWp mit Einspeisung auf Mittelspannungsebene.
Ausschließlich akkreditierte Zertifizierungsstellen dürfen die Anlagenzertifikate ausstellen. Die Fördergesellschaft Windenergie und andere Dezentrale Energien (FGW) führt eine Liste der Zertifizierungsstellen. Eine Zertifizierungsstelle prüft dann die Netzkonformität der Erzeugungsanlage. Demnach werden eine Inbetriebsetzungserklärung und eine Konformitätserklärung durch die akkreditierte Stelle ausgestellt. Diese müssen dann dem Netzbetreiber vorgelegt werden. Erst dann darf günstiger Solarstrom ins Netz eingespeist werden.
Personalengpässe und fehlende Erfahrungen bei den zuständigen Zertifizierungsstellen führten zuletzt zu den erheblichen Wartezeiten (teilweise über 1 Jahr) im Vergabeprozess. Etwaige Ungenauigkeiten bei der Antragsstellung durch bspw. fehlende Details, verlängern die Wartezeit und sorgen für zusätzliche Belastung in den Zertifizierungsstellen.
Abschreckungswirkung der Anlagenzertifizierung
Einzureichende Dokumente mit häufig rund 100 Seiten Dicke, berichten Unternehmen der Solarbranche. Der Zubau der Anlagen zeigt eine klare Entwicklung. Um der Zertifizierungspflicht und damit dem zusätzlichen Aufwand zu entgehen wurden Photovoltaikanlagen kleiner dimensioniert (< 135 kWp).
"Der Gesamtaufwand und die Kosten steigen bei diesen kleinen Anlagen teils so stark, dass viele Betriebe diese Anlagengröße nun vermeiden", so Carsten Körnig Geschäftsführer des Bundesverband Solarwirtschaft (BSW). Die Daten der Bundesnetzagentur und des BSW zeigen eine drastische Reduktion an zugebauten PV-Anlagen im Größensegment 300 – 750 kWp. Während der Anteil des Größensegments am gesamten Zubau im Juni 2019 bei rund 40 % lag, bewegt sich der Anteil in den letzten Monaten zwischen 5 und 10 %. Die Tabelle gibt den Zubau in MW nach Größensegment an.
Anlagengröße | Juni 2022 | 1. Halbjahr 2022 | Vergleich zum 1. Halbjahr 2021 |
---|---|---|---|
Über 750 kWp | 267,97 MW | 1.659,29 MW | 73,68 % |
100 kWp - 750 kWp | 55,50 MW | 288,69 MW | -56,23 % |
30 kWp - 100 kWp | 21,33 MW | 128,73 MW | -37,89 % |
10 kWp - 30 kWp | 97,46 MW | 517,08 MW | 30,95 % |
bis 10 kWp | 131,56 MW | 624,12 MW | 19,01 % |
Vereinfachung in Sicht?
Seit dem 30. Juli 2022 gilt eine geänderte NELEV. Im Zuge der umfassenden gesetzlichen Neuerungen für die Energiewirtschaft im Juli 2022 wurde die NELEV um ein Anlagenzertifikat (B) unter Auflage ergänzt (§ 2 Absatz 2b NELEV). Dieses soll nach Angaben des BMWK den „Zertifizierungsstau“ der PV-Anlagen auf Mittelspannungsebene lösen. Unter dem VDE veröffentlichte das FNN bereits Ausführungshinweise zur vereinfachten Zertifizierung. Demnach sind folgende Unterlagen vorerst ausreichend, sofern nicht anders mit der Zertifizierungsstelle abgestimmt:
- Aktuelle ausgefüllte Vordrucke E.8 / E.9 der VDE -AR-N 4110
- Einpoliger Übersichtsschaltplan mit sämtlichen technischen Komponenten
- Auflistung der wesentlichen technischen Daten der Komponenten
Anlagenbetreiber:innen können das Zertifikat (B) unter Auflage unmittelbar bei der zuständigen Zertifizierungsstelle anfordern. Nach Ausstellung sind die Betreiber:innen dazu verpflichtet, alle erforderlichen Nachweise gemäß § 19 Absatz 4 EnWG bis mindestens 18 Monate nach erstmaliger Inbetriebnahme der ersten Erzeugungseinheit nachzureichen. Das vorläufige Anlagenzertifikat wird vorerst bis einschließlich zum 31. Dezember 2025 vergeben.
Ein beschleunigter PV-Zubau bleibt abzuwarten
Nach Angaben des BSW reichen die Vereinfachungen durch das Anlagenzertifikat (B) unter Auflage nicht aus, um einen Beschleunigungseffekt im Größensegment zu bewirken. Eine Anhebung der zertifizierungsfreien Leistung von 135 auf 500 kWp könnte den Zubau von Freiflächenanlagen auf Mittelspannungsebene beschleunigen, so der Verband. Die Schwelle sei "deutlich zu tief gesetzt" worden, kritisiert Carsten Körnig vom BSW.